Bezugsnormen
Taiga Brahm
Bezugsnormen sind Gütemaßstäbe, die zur Beurteilung von Leistungen der Schülerinnen und Schüler dienen und sie gleichzeitig bei einer realistischen persönlichen Zielsetzung und ihrer Motivation unterstützen (Winther, 2006). Nach der Bewertung der Leistungen (Bewertung von Prüfungen) muss das ermittelte Ergebnis, z.B. die erreichte Punktzahl, dementsprechend beurteilt werden, da diese allein noch keine Auskunft darüber gibt, ob sie einer guten oder einer schlechten Leistung entspricht. Aus diesem Grund werden Standards benötigt, mit welchen die ermittelten Leistungen verglichen werden können, sogenannte Vergleichsstandards (Rheinberg, 2001).
Unterschieden wird zwischen sozialer, individueller und kriterialer Bezugsnorm (Hösch et al., 2017). Aufgrund verschiedener Bezugsnormen und unterschiedlicher Nutzung können Kompetenzen je nach Bundesland, Schule wie auch Klasse abweichend benotet werden (Holmeier, 2012) (Bewertung von Prüfungen).
Soziale Bezugsnorm
Bei der sozialen Bezugsnorm wird die individuelle Leistung mit der durchschnittlichen Leistung einer Bezugsgruppe verglichen, welche meistens die eigene Klasse oder Lerngruppe ist (Hösch et al., 2017). Die Leistungen werden so in eine Reihenfolge gebracht, wodurch eine Einordnung der besten, mittleren und schlechtesten Ergebnisse ermöglicht wird. Ein Beispiel hierfür wäre die Normalverteilung von Leistungen der Schülerinnen und Schüler, d.h. Zensuren, bei denen es meistens nur wenige sehr gute und sehr schlechte, aber viele Ergebnisse im mittleren Bereich gibt (Euler & Hahn, 2014). In der Praxis findet diese Bezugsnorm oft dort Anwendung, wo Lehrkräften „vorgeschrieben wird, [dass] ihre Klassenarbeiten … einen bestimmten Notendurchschnitt aufweisen [müssen, da sie] sonst … zu schwer oder zu leicht [seien]“ (Euler & Hahn, 2014, S. 195). Die Folge ist, dass die eigene Beurteilung nicht nur von der eigenen Leistung abhängt, sondern vor allem davon, in welcher sozialen Gruppe man beurteilt wird. Nützlich sind soziale Bezugsnormen bei der Bewertung besonders dort, wo es darum geht, die Leistungsstärksten oder je nach Situation die Leistungsschwächsten zu identifizieren (Rheinberg, 2001). Dies ist beispielsweise bei Bewerbungen um eine bestimmte berufliche Position der Fall (Rheinberg, 2001).
Nach Rheinberg (2001) weist die soziale Bezugsnorm mehrere „blinde Flecken“ auf. Zum einen können Leistungen immer nur innerhalb einer einzigen Gruppe, hier der Klasse, beurteilt werden, im besten Fall noch innerhalb einer Schule. Vergleiche zu anderen Schulen finden nicht statt, was vor allem dann kritisch wird, wenn es um Beurteilungen und Berechtigungen für Ausbildungs- und Studienplätze o.Ä. geht. Zum anderen werden nicht nur individuelle Lernzuwächse vernachlässigt, sondern auch der Lernzuwachs aller unsichtbar gemacht. So bleiben z.B. „schlechte“ Schülerinnen und Schüler weiterhin „schlecht“, obwohl sich ihre Leistungen im Laufe der Zeit verbessert haben. Damit verbunden sind auch die Schwankungen im Lernzuwachs. Schülerinnen und Schüler empfinden oftmals erst dann einen Lernzuwachs, wenn sie andere, bessere Lernende „überholen“. Gelingt dies nicht, kriegen sie gleichbleibende Leistungen rückgemeldet, ganz egal, ob sie für sich selbst einen ungewöhnlichen Leistungsanstieg erreicht haben oder weiter zurückgefallen sind (Rheinberg, 2001). Ein Effekt, der oftmals bei der sozialen Bezugsnorm auftritt, ist der „Big-Fish-Little-Pond-Effekt“, auch bekannt unter dem Begriff „Fischteicheffekt“. „Zwei Schülerinnen oder Schüler (‚fishes') mit gleicher individueller Leistungsfähigkeit, die aber Klassen (‚ponds') mit unterschiedlichen Leistungsniveaus besuchen, weisen unterschiedliche Selbstwahrnehmungen eigener Fähigkeiten auf“ (Götz & Preckel, 2006, S. 24). Aus diesem Grund empfinden Schülerinnen und Schüler einer leistungsschwächeren Klasse eine höhere bzw. bessere Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten als Schülerinnen und Schüler desselben Leistungsniveaus in einer leistungsstärkeren Klasse (Götz & Preckel, 2006).
Individuelle Bezugsnorm
Die individuelle Bezugsnorm richtet ihren Fokus auf den individuellen Lernfortschritt im Vergleich zu den Vorleistungen des oder der Lernenden (Hösch et al., 2017). Die Leistung des oder der Einzelnen wird hier vor dem Hintergrund der vergangenen Leistungen bewertet. Somit geht der individuelle Lernzuwachs direkt in die Leistungsbeurteilung ein und Lernende können ihre Lernbemühungen und den Lernerfolg direkt wahrnehmen. Unterrichtsexperimente zeigen, dass individuelle Bezugsnormen Lernende mittelfristig erfolgszuversichtlicher stimmen (Winther, 2006).
Mithilfe dieser Norm können vor allem Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten gefördert und motiviert werden, da sie sonst im Kontext ihrer (leistungsstärkeren) sozialen Gruppe keine ausreichende Honorierung für ihre Anstrengung erhalten (Euler & Hahn, 2014). Ebenso spielt die individuelle Bezugsnorm eine wichtige Rolle im Rahmen eines Feedbacks ohne Benotung (Euler & Hahn, 2014). Individuelle Bezugsnormen sind hilfreich, um besonders detaillierte Rückmeldungen über den Lernzuwachs innerhalb eines Lernabschnitts zu geben und sie können Leistungsschwankungen im Lernverlauf der einzelnen Schülerinnen und Schüler sichtbar machen (Rheinberg, 2001). Problematisch kann jedoch sein, dass die Leistungsunterschiede zwischen den Lernenden ausgeblendet werden. Dies führt dazu, dass sich Lernende ihrer Selbsteinschätzung nicht mehr sicher sind, da ihnen der Vergleich zu anderen fehlt (Rheinberg, 2001). Der fehlende Vergleich bringt außerdem mit sich, dass die individuelle Bezugsnorm nicht angewendet werden kann, wenn eine Prüfung mit Selektionszielen verknüpft ist (Euler & Hahn, 2014).
Kriteriale Bezugsnorm
Der kriterialen Bezugsnorm liegen festgelegte Kriterien wie z.B. Bildungsstandards oder vereinbarte Lernziele bzw. Teilkompetenzen zu Grunde, anhand derer die individuelle Leistung gemessen wird (Hösch et al., 2017). Bekannt ist sie auch unter der Bezeichnung sachliche oder curriculare Bezugsnorm. Ziel ist es, dass bestimmte Anforderungen erfüllt werden müssen, wobei Alternativentscheidungen (z.B. wurde das Ziel erreicht, ja oder nein?) oder abgestufte Urteile (z.B. Zensuren) vorgenommen werden (Rheinberg, 2001). Der Bildungsplan bildet hier einen Anker für die Bewertung. Durch die kriteriale Bezugsnorm wird somit deutlich, ob Schülerinnen und Schüler gelernt haben, was der Bildungsplan vorgibt oder ob die curricularen Lernziele nicht erreicht wurden. Werden keine weiteren Zusatzinformationen wie z.B. Rückmeldungen zum Lernerfolg gegeben, wissen Lernende unter dieser Bezugsnorm jedoch nicht, inwiefern sie sich verbessert oder verschlechtert haben. Grund dafür ist, dass ihnen nur vermittelt wird, ob sie das Ziel erreicht haben oder nicht - und oftmals nicht in welchem Maße (Rheinberg, 2001).
Bezugsnormen im Wirtschaftsunterricht
Auch im Wirtschaftsunterricht spielen Bezugsnormen eine sehr wichtige Rolle. Wie bereits aufgezeigt, haben alle Bezugsnormen ihre „blinden Flecken“, weshalb es von Bedeutung ist, alle drei Bezugsnormen im (Wirtschafts-)Unterricht zu berücksichtigen. Lehrkräfte neigen dazu, sich auf die soziale und kriteriale Bezugsnorm zu fokussieren, sollten jedoch auch die individuelle Bezugsnorm berücksichtigen, denn sie kann beispielsweise die Motivationseffekte bei Lernenden verstärken (Rheinberg, 2001).
Nimmt man zum Beispiel einen Wirtschaftsschüler oder eine Wirtschaftsschülerin, der/die sich von einer „ungenügenden“ auf eine „mangelhaften“ Leistung verbessert hat, dann sollte dieser/diese ähnliche Freude und Stolz empfinden wie andere Lernende, die sich von „gut“ zu „sehr gut“ gesteigert haben (individuelle Bezugsnorm). Auf sozialer Bezugsnormebene sollte dieser Schüler oder diese Schülerinnen zur Selbsteinschätzung wissen, dass es auch einige Schülerinnen und Schüler gibt, denen das Fach Wirtschaft leichter fällt und die daher eine bessere Note haben als er. Auf kategorialer/sachlicher Ebene sollte ihm bewusst sein, dass er noch einiges zu lernen hat, um auf die versetzungssichernde Bewertung „ausreichend“ zu kommen. Hier ist es wichtig, die individuelle Bezugsnorm zu berücksichtigen, um klarzustellen, dass sich der Schüler oder die Schülerin verbessert hat und ihm bzw. ihr seine/ihre Leistungszuwächse aufzuzeigen (angepasst an den Wirtschaftskontext nach Rheinberg, 2001).
In der Gesamtschau sollte bei der Bewertung von Prüfungen (Bewertung von Prüfungen) beachtet werden, dass je nach Bezugsnorm das Ergebnis in unterschiedlichem Licht erscheinen kann. Soziale Bezugsnormen können zeitstabile Fähigkeits- und Begabungsunterschiede zwischen Personen aufzeigen, wohingegen individuelle Bezugsnormen vor allem auf intraindividuelle Veränderungen aufmerksam machen (Mischo & Rheinberg, 1995). Folglich sollten Lehrende versuchen, alle Bezugsnormen zu nutzen, um ein möglichst umfassendes Bild der Leistungen und deren Veränderung zu bekommen und angemessene Voraussetzungen für die Selbsteinschätzung der Lernenden zu schaffen.
Literatur
Euler, D., & Hahn, A. (2014). Wirtschaftsdidaktik (3., aktualisierte Auflage). Haupt Verlag.
Götz, T., & Preckel, F. (2006). Der „Big-fish-little-pond-Effekt“ („Fischteicheffekt“): Eine Untersuchung an der Sir-Karl-Popper-Schule und am Wiedner Gymnasium in Wien. Özbf News & Science, 14, 24-26.
Holmeier, M. (2012). Bezugsnormorientierung im Unterricht im Kontext zentraler Abiturprüfungen. In K. M. Merki (Hrsg.), Zentralabitur: Die längsschnittliche Analyse der Wirkungen der Einführung zentraler Abiturprüfungen in Deutschland (S. 237-261). VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94023-6_10
Hösch, K., Reip, S., Klein, G., & Jetter, A. (2017). Leistungsfeststellung, Leistungsbeurteilung und Leistungsrückmeldung an Gemeinschaftsschulen (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, Hrsg.). https://lb.boa-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/18450/file/KM_HR_Leistungsbeurteilung-GMS_171016.pdf
Mischo, C., & Rheinberg, F. (1995). Erziehungsziele von Lehrern und individuelle Bezugsnormen der Leistungsbewertung. Zeitschrift für pädagogische Psychologie, 9(3-4), 139-151.
Rheinberg, F. (2001). Bezugsnormen und schulische Leistungsbeurteilung. In F. E. Weinert (Hrsg.), Leistungsmessungen in Schulen (S. 59-71). Beltz.
Winther, E. (2006). Motivation in Lernprozessen. Konzepte in der Unterrichtspraxis von Wirtschaftsgymnasien. Deutscher Universitätsverlag. https://doi.org/10.1007/978-3-8350-9304-1
zuletzt aktualisiert: 01.11.2024
Zitationshinweis
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Brahm, T. (2024). Bezugsnormen. In T. Brahm, M. Ring, & K. Schild (Hrsg.), Wirtschaft unterrichten. Offenes Lehrbuch für Wirtschaftsdidaktik. Online verfügbar unter: https://wirtschaft-unterrichten.de/diagnose-ueben-pruefen/bezugsnormen (zuletzt abgerufen am [Datum]).