Reflexive Wirtschaftsdidaktik als übergreifender Ansatz
Taiga Brahm und Malte Ring
Der fachwissenschaftliche Teil der Lehrer:innenbildung für das Fach Wirtschaft kann als komplex bezeichnet werden. Die Wirtschaftswissenschaft stellt einerseits selbst eine plurale Disziplin dar (Plurale Ökonomik), andererseits sind vielfältige interdisziplinäre Bezugspunkte zu berücksichtigen. Die Komplexität wird u. a. daran sichtbar, dass wirtschaftliche Ereignisse je nach zugrunde gelegter ökonomischer Denkschule sehr unterschiedlich bewertet werden. Auch kann dasselbe Wirtschaftsereignis gesellschaftliche Interessensgruppen ganz verschieden betreffen (Davies, 2002).
So wirkt sich beispielsweise die Subventionierung von Unternehmen in der Automobilindustrie positiv auf den entsprechenden Wirtschaftszweig aus, indem die Produktion gefördert wird und Arbeitsplätze erhalten bleiben. Die Gruppe der Konsumentinnen und Konsumenten kann zunächst ebenfalls von der Subventionierung profitieren, da diese zu niedrigeren Preisen führen kann. Gesamtgesellschaftlich betrachtet können durch die Subventionen jedoch verzerrte Anreize gesetzt werden, wodurch langfristig negative Folgen für die Umwelt entstehen und Unternehmen weniger in Innovationen investieren, die langfristig der Umwelt dienen (Moral und Urteilsbildung).
An dieser Stelle setzt der Ansatz der reflexiven Wirtschaftsdidaktik an. Aufbauend auf der Idee der reflexiven Wirtschaftspädagogik nach Tafner (2012; 2015; 2019) wird unter reflexiver Wirtschaftsdidaktik die Grundidee verstanden, dass (zukünftige) Wirtschaftslehrpersonen erstens in der Lage und zweitens bereit dazu sein müssen, die Pluralität der Disziplin, die unterschiedlichen Perspektiven, z.B. von verschiedenen Anspruchsgruppen, und damit gegebenenfalls einhergehende Kontroversen zu verstehen, zu reflektieren und sinnvoll in den eigenen Unterricht einzubinden (Moral und Urteilsbildung). Im Wirtschaftsunterricht bietet es sich zum Beispiel bei vielen Themen an, das Dreieck der Nachhaltigkeit und damit sowohl die ökonomische als auch die ökologische und soziale Zieldimension miteinzubinden und als Urteilskriterien zu berücksichtigen.
Auch in etablierten Konzeptionen der Wirtschaftsdidaktik ist das Kontroversitätsprinzip in unterschiedlichen Ausführungen bereits enthalten:
Kategorialen Wirtschaftsdidaktik
In der kategorialen Wirtschaftsdidaktik (z. B. Dauenhauer, 1997; Kruber, 2000), die auf Klafkis kategorialer Bildungstheorie aufbaut (Klafki, 2019) werden Stoffkategorien festgelegt, um die Inhaltsauswahl (Didaktische Reduktion) zu unterstützen. Dabei folgen die Vertreterinnen und Vertreter der kategorialen Wirtschaftsdidaktik dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung (Curriculare Prinzipien). Es lässt sich dabei eine kritisch-reflexive Haltung feststellen, wenn beispielsweise Kruber (2000) hinterfragt, „inwieweit sich ein Stoff für die Einführung in ökonomische Denkweisen und Methoden eignet, oder inwieweit er sich eignet, ethische Grundfragen des Wirtschaftens zu bearbeiten“ (Brahm et al., 2020, S. 875). Auch implizit enthalten Krubers Stoffkategorien Elemente von Kontroversität, z. B. finden sich darin wirtschaftspolitische Ziel- und Interessenkonflikte wieder (Kruber, 1997).
Situationsorientierten Wirtschaftsdidaktik
Darüber hinaus lässt sich auch bei der situationsorientierten Wirtschaftsdidaktik (Steinmann, 1997) wie auch bei verhaltens- und institutionentheoretischen (Karpe & Krol, 1997) sowie handlungstheoretischen Ansätzen (Krol, 2001) erkennen, dass diese die Kontroversen der Bezugswissenschaft im Blick haben.
Offen bleibt aber, wie die – weithin als notwendig erachtete – Kontroversität in den allgemeinbildenden Wirtschaftsunterricht Einzug halten kann. Das Konzept der reflexiven Wirtschaftspädagogik, wie es Tafner (2012; 2015; 2019) entwickelt hat, zeigt erste Ansätze zur Förderung von Reflexivität und Kontroversität in der Bezugsdisziplin, um daraus Leitlinien für eine entsprechende Didaktik abzuleiten (Tafner, 2017). Dabei kann Reflexivität in Anlehnung an Hibbert (2013) „als grundlegende Haltung, die sich im Rahmen wiederkehrender Reflexion in konkreten Lern- und Handlungssituationen entwickelt“ (Naeve-Stoß et al., 2019, S. 11) betrachtet werden. Folglich stellt Reflexivität eine Zielkategorie für die Ausbildung von Wirtschaftslehrpersonen und den Wirtschaftsunterricht dar und kann dazu beitragen, dass sich Lernende zu mündigen Wirtschaftsbürgerinnen und -bürgern entwickeln (Bildungsstandards und Kompetenzmodelle).
Mindestens drei Ansatzpunkte für die Integration von Reflexivität und Kontroversität in den Wirtschaftsunterricht können identifiziert werden:
- Planung und Gestaltung des Wirtschaftsunterrichts vom Menschen ausgehend (Tübinger Modell der Wirtschaftsdidaktik), was ähnlich auch in der problemorientierten Wirtschaftsdidaktik gefordert wird (Problemorientierung),
- Einbezug der gesellschaftlichen Folgen des ökonomischen Denkens und Handelns (Tafner, 2017),
- Berücksichtigung des theoretischen und methodischen Pluralismus sowie der interdisziplinären Bezugspunkte der Wirtschaftsdidaktik (Plurale Ökonomik).
Bei der Ausgestaltung eines reflexiven Wirtschaftsunterrichts spielen regelmäßig auch ethische Fragestellungen eine zentrale Rolle (Moralische Urteilsbildung). Hierzu formuliert Liening (1996):
„Bei fast jedem Thema werden Fragen des Wertens und Bewertens aufgegriffen. Ob es sich um Themen aus dem Bereich der Volks- oder Betriebswirtschaftslehre handelt – bei all den denkbaren Themen geht es um die rationale Abwägung von Werten und die Erstellung einer Prioritätenskala. Sie erst macht wirtschaftliches Handeln möglich.“
In diesem Sinne stellt es ein zentrales Anliegen der reflexiven Wirtschaftsdidaktik dar, die Reflexivität der Lernenden gegenüber den wirtschaftswissenschaftlichen Inhalten zu fördern. Ausgangspunkt dieser Förderung stellt die Lehrer:innenbildung an den Hochschulen dar. Hier kann und sollte ein Beitrag zum Ansatz der Meta-Reflexivität (Cramer et al., 2019, 2024) als einer möglichen Professionalisierungsstrategie für (zukünftige) Lehrerinnen und Lehrer geleistet werden. Die grundlegende Idee ist also, dass (zukünftige) Lehrpersonen bereits im Lehramtsstudium die wirtschaftswissenschaftlichen Inhalte reflektieren, sodass diese Reflexivität Teil ihrer Professionalität wird (Naeve-Stoß et al., 2019). Anders ausgedrückt: Sind Lehrpersonen sensibilisiert für die Bedeutung und Notwendigkeit von Reflexivität im Wirtschaftsunterricht, wird dieses grundlegende Prinzip auch Einzug in die Schulen halten.
Quiz zur reflexiven Wirtschaftsdidaktik
Literatur
Brahm, T., Ring, M., & Rudeloff, M. (2020). Mögliche Ausgestaltung der reflexiven Wirtschaftsdidaktik für die Lehrer*innenbildung an allgemeinbildenden Schulen. Zeitschrift für Pädagogik, 66(6), 873-893. https://doi.org/10.25656/01:25818
Cramer, C., Brahm, T., Führer, C., Hapke, J., & Schweitzer, F. (2024). Zur Relevanz der Domäne für die Professionalität von Lehrpersonen. Zeitschrift für Pädagogik, 3, 366-386. https://doi.org/10.3262/ZP0000016
Cramer, C., Harant, M., Merk, S., Drahmann, M., & Emmerich, M. (2019). Meta-Reflexivität und Professionalität im Lehrerinnnen- und Lehrerberuf. Zeitschrift für Pädagogik, 65, 401-423. https://doi.org/10.25656/01:23949
Dauenhauer, E. (1997). Kategoriale Wirtschaftsdidaktik: Bd. 1: Anregungen zur inhaltlichen Neugestaltung. Walthari.
Davies, P. (2002). Principals or Agents? Developing Citizenship through Business, Economics and Financial Education. JSSE - Journal of Social Science Education, 1. https://doi.org/10.4119/UNIBI/JSSE-V1-I1-449
Hibbert, P. (2013). Approaching Reflexivity Through Reflection: Issues for Critical Management Education. Journal of Management Education, 37(6), 803-827. https://doi.org/10.1177/1052562912467757
Karpe, J., & Krol, G.-J. (1997). Ökonomische Verhaltenstheorie, Theorie der Institutionen und ökonomische Bildung. In K.-P. Kruber (Hrsg.), Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung (Bd. 17, S. 75-102). Hobein.
Klafki, W. (2019). Allgemeine Erziehungswissenschaft. Systematische und historische Abhandlungen. Herausgegeben und eingeleitet von Karl-Heinz Braun, Frauke Stübig und Heinz Stübig. Springer VS.
Krol, G.-J. (2001). „Ökonomische Bildung“ ohne „Ökonomik“? Zur Bildungsrelevanz des ökonomischen Denkansatzes. Onlinejournal für Sozialwissenschaften und ihre Didaktik, 1/2001, 20-30.
Kruber, K.-P. (1997). Stoffstrukturen und didaktische Kategorien zur Gegenstandsbestimmung ökonomischer Bildung. In K.-P. Kruber (Hrsg.), Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung (S. 55-74).
Kruber, K.-P. (2000). Kategoriale Wirtschaftsdidaktik - Der Zugang zur ökologischen Bildung. GWP - Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, 49(3), 285-295.
Liening, A. (1996). Moralische Erziehung im Wirtschaftsunterricht. In H.-J. Albers (Hrsg.), Ethik und ökonomische Bildung. Professor Friedrich-Wilhelm Dörge zur Vollendung des 75. Lebensjahres gewidmet (Bd. 16, S. 179-186). Hobein.
Liening, A. (2015). Wissen, Haltung und moralische Erziehung. In A. Liening (Hrsg.), Ökonomische Bildung (S. 149-177). Springer Gabler.
Naeve-Stoß, N., Jenert, T., & Brahm, T. (2019). Fachbezogene Reflexion in der beruflichen Lehrer*innenbildung. bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik - online, 37, 1-20.
Steinmann, B. (1997). Das Konzept „Qualifizierung für Lebenssituationen“ im Rahmen der ökonomischen Bildung heute. In K.-P. Kruber (Hrsg.), Konzeptionelle Ansätze ökonomischer Bildung (Bd. 17, S. 1-22). Hobein.
Tafner, G. (2012). Reflexive Wirtschaftspädagogik: Wie Ethik, Neo-Institutionalismus und Europädagogik neue Perspektiven eröffnen könnten. In U. Faßhauer, B. Fürstenau, & E. Wuttke (Hrsg.), Berufs- und wirtschaftspädagogische Analysen: Aktuelle Forschungen zur beruflichen Bildung (1. Aufl., S. 35-46). Verlag Barbara Budrich.
Tafner, G. (2015). Reflexive Wirtschaftspädagogik. Wirtschaftliche Erziehung im ökonomisierten Europa. Eine neo-institutionelle Dekonstruktion des individuellen und kollektiven Selbstinteresses (Bd. 48). Eusl.
Tafner, G. (2017). Reflexive Wirtschaftspädagogik - ein neues Selbstverständnis der Disziplin. bwp@ Spezial 14: Homo oeconomicus oder Ehrbarer Kaufmann - Reflexionen zum Verhältnis der Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften, 1-28.
Tafner, G. (2019). Das Sozioökonomische und das Kaufmännische. In C. Fridrich, R. Hedtke, & G. Tafner (Hrsg.), Historizität und Sozialität in der sozioökonomischen Bildung (S. 49-80). Springer VS.
zuletzt aktualisiert: 01.11.2024
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Brahm, T., & Ring, M. (2024). Reflexive Wirtschaftsdidaktik. In T. Brahm, M. Ring, & K. Schild (Hrsg.). Wirtschaft unterrichten. Offenes Lehrbuch für Wirtschaftsdidaktik. Online verfügbar unter: https://wirtschaft-unterrichten.de/einfuehrung/wirtschaftsdidaktische-professionalitaet/reflexive-wirtschaftsdidaktik (zuletzt abgerufen am [Datum]).